Um den Aufstieg dieser „anderen“ Bläschen zu ermöglichen, mussten Produzenten und Konsumenten zu einem Kurswechsel bereit sein. Über Generationen hinweg litten die Produzenten unter einem tiefsitzenden und selbst-eingebrockten Minderwertigkeitskomplex. Der Zynismus der Konsumenten wurzelte in dem billigen, stahltank-und-temperaturkontrollierten Getränk, das den Markt in den 1970ern und frühen 1980ern überflutete. Wer diese Ära miterlebte, wird Namen wie Cold Duck, Asti Spumante und Riunite Lambrusco (eine Generation lang die größte Marke auf dem US Markt) nicht vergessen können – Produkte, die dem Geschmack der Masse entsprechen sollten, und zwar in der Regel durch eine großzügige Süße. Selbst Prosecco litt über Jahrzehnte unter einem bescheidenen Ruf. Das gilt besonders für Prosecco Frizzante, der einen geringeren Druck in der Flasche hat als Prosecco Spumante – und der als Kategorie erfunden wurde, um die deutsche Schaumweinsteuer zu umgehen. Es gibt gute Gründe dafür, dass eine ganze Generation Schaumwein, bei dem es sich nicht um Champagner handelte, bestenfalls als billigen Ersatz sah.
Dass der Marktanteil von Prosecco jüngst ansteigt, spiegelt hingegen wider, dass die Stimmung der kaufenden Öffentlichkeit nun eher von Neugier angetrieben wird als von Kennerschaft. Im Jahr 2018 war Prosecco der weltweit meistverkaufte Schaumwein (nach Volumen) und übertraf dabei sogar Champagner. Die Vorteile von Proseccos Charmat Tank-Charme sind klar: wettbewerbsfähiger Preis, Verlässlichkeit und – das Schlagwort auf dem modernen Planet Wein – Frische. Die Kehrseite der Medaille ist, dass mit der Verlässlichkeit nicht mehr erreicht werden kann als was wir – höflich ausgedrückt - Neutralität nennen möchten. Oder, weniger großzügig, „Mittelmäßigkeit“. Die Konsumenten begannen, die Kategorie selbst als Marke anzusehen. Mionetto (Halle 15, Stand F21) ist ein seltenes Beispiel für Prosecco mit einer authentischen Markenidentität auf mehreren Marktsegmenten.
Doch irgendwie gelang es den „winzigen Bläschen“, ihre Geschichte selbst neu zu schreiben. Prosecco erlangte im Jahr 2009 seinen DOC-Status und nur zehn Jahre später wurden die Prosecco-Hügel von Conegliano und Valdobbiadene zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Im Vereinigten Königreich, dem zweitgrößten Weltmarkt, verzeichnete der Umsatz von Prosecco Conegliano Valdobbiadene DOCG das stärkste Wachstum auf dem Markt, stieg zwischen 2016 und 2017 um 38 Prozent im Wert und um 35 Prozent im Volumen an. Wenn der Ursprung eine Rolle spielt, folgt die Qualität. „Der wahre Wert des DOCG-Status ist die Tatsache, wirklich anders und erkennbar zu sein“, sagt Mara Ghirardi, Verkaufsleiterin im Export von L’Antica Quercia (Halle 15, Stand F 21). „Wir glauben, dass die Konsumenten nicht länger standardisierten Prosecco wollen, sondern auf der Suche nach originellen und einzigartigen Spielarten sind.“ Bei den Prädikaten Superiore und Rive experimentiert eine Handvoll Produzenten mit partieller Fassreife und ausgedehntem Kontakt mit der Feinhefe, im Versuch, die klassische Prosecco-Frische und den Ausdruck der Herkunft zu verbinden.
Der Prosecco di Valdobbiadene „Cinqueanni“ von Ruggeri (Halle 13, Stand C 43), zum Beispiel, ist ein limitierter, mit der Charmat-Methode produzierter Jahrgangs-Prosecco, für den der Grundwein von Reben aus einer einzelnen Parzelle im traditionellen Weinberg stammt und der 46 Monate auf der Feinhefe blieb. Anders als bei vielen seiner Cousins aus der Champagne unterstreicht die Feinhefe hier die charakteristischen Prosecco-Eigenschaften, statt von ihnen abzulenken: Saftig und schlank, geschmeidig aber niemals süß. Und was ihn besonders abhebt, sind die wirklich winzigen Bläschen. Eine Reihe feiner, eleganter Kügelchen, die glitzern wie eine Weihnachtslichterkette im Glas – eher Van Goghs „Sternennacht“ als Coco Chanels Perlen. Und bei 35,00 Euro pro Flasche ist der Preis ernsthaft genug, dass man sich auf den Wein konzentriert, aber nicht so hoch, dass man vergessen könnte, aus welchem Anlass man feiert.
Da Schaumweine zehn Prozent des weltweiten Umsatzes auf dem Weinmarkt ausmachen, ist allgemein die Bereitschaft immer größer, die unterschiedlichen schäumenden Erlebnisse für ihre individuellen Werte zu schätzen. In der Nähe von Bologna werden in den steilen Kalksteinhügeln im Schatten der Appeninen auf etwa 640 ha pro Jahr um die ein Millionen Flaschen Colli Bolognesi Pignoletto DOCG (Halle 15, Stand E 61) aus der Rebsorte Grechetto Gentile produziert. Diese mit der Charmat-Schaumweine spiegeln die kahlen, steinigen Kluften wider, welche die Landschaft dominieren. Sie sind pikant, floral und mineralisch, mit zarten Fruchtnoten. Regionale Produzenten, wie zum Beispiel Tenuta La Riva (Halle 15, Stand E61), experimentieren – ähnlich wie ihre Prosecco-Cousins – mit ausgedehntem Feinhefe-Kontakt und Fassreife, um für mehr Komplexität und besseres Lagerungspotenzial zu sorgen.
PET NAT
Am anderen Ende des Spektrums, weit weg von großen Stahltanks und deutlicher Frucht, ist Pet Nat zu finden. Pet Nat ist die niedliche Abkürzung für Pétillant Naturelle (auch „Méthode Ancestrale“). Diese leicht perlenden, günstigen Flaschen werden sozusagen mit der ursprünglichen traditionellen Methode produziert. Lange bevor es die Eisbäder und Filter gab, die bei der modernen Champagner-Produktion zum Einsatz kommen, gab es Pet Nat. Das Konzept ist einfach und nicht teuer: Ein teilweise vergorener, nicht stabilisierter Wein wird auf Flaschen abgefüllt, die daraufhin mit Kronkorken verschlossen werden. Sobald die Fermentation weiterläuft, wird CO2 in der Flasche freigesetzt. Dieses gefangene CO2 sorgt für ein leichtes Schäumen – bzw. ein sanftes Perlen – bei etwa 2,5–3 bar Druck. Ein Hauch Restzucker und der Glanz lockeren Sediments in der Flasche bleiben häufig zurück. Ein erfolgreicher Pet Nat verlangt vom Produzenten zu gleichen Teilen Können und Glauben, um den instabilen Wein vorsichtig zu einer gewissen Stabilität zu bringen und dann… loszulassen.
Beeindruckende Beispiele findet man heute im südwestlichen Teil des Beaujolais und der Montlouis-sur-Loire AOP aus dem Loiretal, wo die Bezeichnung „Pétillant Originel“ legal auf dem Etikett erscheinen darf. Auch in Österreich und Deutschland – Länder, die dafür bekannt sind, Werte wie Authentizität, Geduld und Transparenz zu schätzen – bieten hier Platz für Entdeckungen, z.B. Weine von Weingut Melsheimer (Halle 13, Stand D70) oder, weiter aus dem Süden der Weinregion Rheinhessen, die Bio-Pet-Nats von Weingut Gysler (Halle 13, Stand D 70) und Weingut Riffel (Halle 13, Stand C 80).
Und auch der ursprüngliche Prosecco, wie er vor dem Einsatz von Stahltanks und kontrollierter Vergärung produziert wurde, sollte weder vergessen noch ignoriert werden. Aus Asolo, Valdobiaddene und Conegliano kommt Col Fondo („sui lieviti“), ein trockener, trüber und komplexer Schaumwein aus der Rebsorte Glera, produziert mit der Methode Ancestrale, der in den 1980ern aus der Mode gekommen war, weil die Nachfrage nach knackigen, klaren und vor allem immer gleichen Proseccos stieg.
Unabhängig von ihrer Herkunft sind Pet Nats natürlich, leicht muffig und unberechenbar. Sie bieten saftige, manchmal schlammige und immer dynamische Aromen, die ins Nussige und Florale tendieren. Es sind zugängliche Weine für das Hier und Jetzt. Für die meisten gilt die Empfehlung, sie innerhalb von 3–4 Jahren zu trinken. Für den Konsumenten sind sie ähnlich risikobelastet wie für den Winzer, da es zwischen einzelnen Flaschen zu extremen Abweichungen kommen kann, ein Faktor, der Wertungsnoten sinnlos werden lässt. Und es ist genau diese Inkonsistenz, die eine frühere Generation von Weintrinkern als Fehler bewertet hätte, die für viele Konsumenten heutzutage das Kennzeichen von Ehrlichkeit und Authentizität ist.
Die Methode Champenoise wurde unter anderem entwickelt, um in der Champagne unreife Trauben kompensieren zu können. Doch laut dem Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne (CVIC) ist die Durchschnittstemperatur der Region in den vergangenen 30 Jahren um 1,1°C angestiegen. Die Reife zu erreichen, ist nicht länger ein Problem. Stattdessen sind die Weinbauern in der Champagne heutzutage eher darum bemüht, Frische zu konservieren, da die Weine von Jahr zu Jahr schwerer und reifer zu werden scheinen. Ob traditionell oder charmat, ob groß oder winzig – wenn es um Bläschen geht, spielt die Größe offenbar wirklich keine Rolle.