Von Stuart Pigott & Paula Redes Sidore
Geht man durch das fachliche Rahmenprogramm der kommenden ProWein (19. bis 21. März 2023), so fallen die vielen Masterclasses, Standevents und Präsentationen auf, die sich um Riesling-Kabinettweine drehen. Das Überraschendste an diesem rasant zunehmenden Interesse an deutschen Riesling-Kabinettweinen ist, was überhaupt zu dieser rapiden Entwicklung geführt hat. Denn schenkt man der Maxime des aktuellen Weinmarketings Glauben, gibt es eigentlich nichts Nachteiligeres für die Popularität eines Weins, als süß zu sein.
Wenn man davon ausgeht, dass rein analytisch deutsche Riesling Kabinetts 25 bis 50 g/l an Restzucker enthalten – was ungefähr ein bis zwei Teelöffel Zucker pro Glas entspricht – dürfte es diesen Trend eigentlich gar nicht geben. Aber Schönheit liegt im Auge des Betrachters, und das Gleiche gilt für das Verhältnis von Süße zum Geschmack aus der Perspektive des Weintrinkers. Und das wiederum trifft nirgendwo mehr zu als beim Riesling.
Die Wende zum Kabinett mag ein Jahrzehnt lang sozusagen hinter verschlossenen Vorhängen stattgefunden haben, ist in den letzten Jahren aber immer offenkundiger geworden. Ursprünglich hat Alles mit dem Gut Scharzhofberg und Egon Müller zu tun, der in Deutschland als der unbestrittene Vorreiter von Riesling mit natürlichem Restzucker bekannt ist. Fast jedes Jahr wird auf dem Gut aus den ältesten Reben ein Riesling Kabinett „Alte Reben“ produziert, der dann auf der VDP-Mosel-Auktion im September exklusiv versteigert wird. Während der Jahrgang 2009 noch für 43 Euro pro Flasche den Besitzer wechselte, kam nur ein Jahrzehnt später der 2019er für atemberaubende 241 Euro unter den Hammer.
Heutzutage ist Egon Müller aber bei Weitem nicht der Einzige, der an diesem Rad dreht. So beschwingt und verspielt der Inhalt dieser begehrten Flaschen auch sein mag, die dafür verlangten Preise sind es ganz und gar nicht. Die sogenannte aus Holz gefertigte „2021 Kabinettkiste“ von Julian Haart aus Piesport an der Mosel enthält sechs Flaschen Kabinett aus dem Jahrgang 2021, alle von verschiedenen Lagen. Auf dem Gut ist sie längst ausverkauft, aber auf dem Sekundärmarkt wird sie zur Zeit für 1.899 Euro, also knapp über 315 Euro pro Flasche angeboten. Und das ist noch lange nicht der Höhepunkt des neuen Kabinett-Kults. Eine einzige Flasche des Schubertslay Riesling Kabinett „Alte Reben“ von Klaus Peter Keller, Erzeuger des berühmt-begehrten G-Max, kostet verrückte 1.590 Euro!
Tatsache ist, dass dieser Nischenmarkt, in dem Sammler um jede einzelne Flasche kämpfen, auf dem globalen Weinmeer hohe Wellen geschlagen hat. Deutscher Kabinett hat in Teilen der internationalen Weinszene beträchtlich an Anziehungskraft gewonnen. So enthüllt ein kurzer Blick auf www.winesearcher.com, dass allein in New York City über 300 verschiedene Kabinetts angeboten werden, angefangen bei einem Preis von $8,99 für eine Flasche von Schmitt Söhne bis zu schwindelerregenden $3.617,70 für eine Kiste Riesling Kabinett Scharzhofberger Alte Reben Auktion 2020 von dem oben erwähnten Egon Müller.
Wie um Himmels Willen ist es dazu gekommen? Eine alte Geschichte neu erzählen, ist eine erprobte und bewährte Taktik, eine mit negativem Image behaftete Produktsparte wieder auf Vordermann zu bringen. Und Kabinett könnte das spektakulärste Beispiel für den Erfolg dieser Methode in der modernen Welt des Weins sein.
Es würde niemand einfallen alle hochwertigen Chardonnays als „Eichengesöff“ abzutun, auch wenn sie unbestreitbar merkliche Aromen und Tannine vom Ausbau in Eichenfässern vorweisen. Ganz anders war das Ende des 20. Jahrhunderts dagegen bei den verschiedenen Kategorien von Weinen mit natürlichem Restzuckergehalt, die man alle abschätzig als „süße Weine“ in einen Topf warf.
Diese Unsitte begann in den späten siebziger Jahren, als der Begriff „restsüß“ abwertend zu einem Mühlstein um den Hals aller restsüßen Weine wurde und noch nicht einmal vor dem ehrwürdigen Château d’Yquem aus dem Sauternes haltmachte. Obwohl als Begriff relativ harmlos, suggerierte er den Verbrauchern doch, dass die Weine schwer und altmodisch klebrig seien, ohne Charakter und Authentizität. Dazu kommt noch, dass eine allein durch ihren Zuckergehalt definierte Kategorie bei der gesundheitsbewußten, jüngeren Generation von Verbrauchern automatisch negativ behaftet ist. Zucker gilt als ungesund und damit sogar als gefährlich.
Bei einer kürzlichen Veranstaltung des „Concours Mondial de Bruxelles“ fand man sich am runden Tisch zusammen, um die Zukunft von süßen und aufgespritteten Weinen zu erörtern. Experten aus traditionellen Süßweinregionen rund um den Globus wie Tokaji in Ungarn, Sauternes in Frankreich und der Mosel in Deutschland trafen sich im sizilianischen Marsala, um Möglichkeiten zu diskutieren wie man Dessert- oder Likörweine wieder ins Rampenlicht rücken könnte. Als Essenz der angesprochenen Thematik ergab sich, brutal ehrlich auf den Punkt gebracht: Die Kategorie der Süßweine hat ein massives Imageproblem.
Was die Kabinettweine angeht, konnten die schier unüberwindlichen Hindernisse auf dem Weg zur Wein-Coolness des 21. Jahrhunderts durch einen radikalen Wandel in der Darstellung überwunden werden. Frische, Spannung und Mineralität wurden ins Zentrum gestellt, dazu noch moderne Schlagworte wie Zitrus und Salz. Riesling Kabinetts mussten nur in angesagten Lokalitäten einem trendorientierten Publikum serviert werden –und Bingo! Auf einmal hieß es in der Szene „Kabinett Newspeak“ (um einen von George Orwell erfundenen Begriff, Zweck zu entfremden).
Soll ein größeres Publikum angesprochen werden, muss das Ganze etwas gestrafft werden, was besonders bei Dr. Bürklin-Wolf (Halle 4, Stand E22) mit der „Hommage à Luise“ aus dem Jahrgang 2020 gut gelungen ist. Mit einem Alkoholgehalt von 9.5 % und einem Hauch Traubensüße ist es ein geradezu klassischer Kabinett, obwohl man diese Bezeichnung auf dem Etikett nicht findet. Man stellt vielmehr die anderen Eigenschaften des Weins in den Fokus: Geschichte, Geschmack, sogar seine ungewöhnliche Identität und Stellung innerhalb des traditionell trockenen Portfolios – und bekommt damit viel mehr als nur einen Wein mit Restzucker. Bei Weinhändlern werden Trinkfluss und Balance gleichberechtigt in den Mittelpunkt der Beschreibung gestellt, Zucker nur flüchtig erwähnt und Süße schon gar nicht.
Bei Sauternes ist es nicht ganz so einfach, vom Eindruck der Schwere wegzukommen, weil die Regeln der Appellation einen Mindestalkoholgehalt von 13.5 % im fertigen Wein verlangen. Château Lafaurie-Peyraguey ging das Wagnis ein, vorzuschlagen, dass man seinen Wein als Basis eines Cocktails benutzen könnte, den sie „SweetZ“ getauft haben. Dabei handelt es sich ganz einfach darum, Sauternes (Halle 9, Stand E64) „on the Rocks“ zu servieren, abgerundet mit ein oder zwei dünnen Scheibchen Orangenschale. Das Eis senkt nicht nur die Temperatur des Weins, sondern verdünnt auch etwas den Alkohol. Die Orangenschale betont die natürliche Zitruskomponente der Weinaromen. Damit hat man bei Château Lafaurie-Peyraguey etwas von der Tradition und dem klassischen Ritual geopfert, um seinem Sauternes eine spielerische, ungekannte Leichtigkeit einzuhauchen und so für ein ganz neues Publikum attraktiv zu machen.
Wie lässt sich ein Imageproblem also am besten bewältigen? Jeder, der sich mit Handys auskennt, weiß, dass die Lösung oft einfach darin besteht, die Perspektive zu ändern. Leichter gesagt als getan mit einer traditionsgeladenen Perspektive wie bei Wein. Aber wenn man sich auf der ProWein 2023 umschaut, wird man sehen, dass das, was sich heute noch „Süßwein“ nennt, bereit ist, morgen auf einen neuen Namen zu hören.
ProWein auf allen Kanälen:
https://www.facebook.com/ProWein.tradefair
https://www.instagram.com/prowein_tradefair
https://www.linkedin.com/showcase/prowein-tradefair/
https://twitter.com/ProWein