Autoren des Fachartikels: Stuart Pigott und Paula Redes Sidore
Es gab eine Zeit, da waren die Grenzen zwischen den verschiedenen Kategorien alkoholischer Getränke klar definiert und leicht zu erkennen. Jeder Produzent musste sich an seine Linie halten, ein bestimmtes Publikum anzusprechen und eine klar definierte Botschaft senden. Laut einer Studie von IWSR wechseln Konsumenten heutzutage immer häufiger zwischen den Kategorien hin und her und probieren neue Getränke aus. Wir befinden uns im Zeitalter der fließenden Grenzen.
Der Alkoholkonsum im Jahr 2020 stieg um insgesamt um 2 % – der deutlichste Zugewinn der Branche seit fast zwei Jahrzehnten – doch das Verhalten der Verbraucher hat sich stark verändert. Alkoholfreie und alkoholarme Getränke werden von den heutigen Konsumenten viel stärker akzeptiert. Und Spirituosen erlebten einen Anstieg von 4,6 %, dank Hard Seltzer in Dosen und Zutaten für Cocktails zuhause als deutliche Gewinner dieser Kategorie. Co-Fermente, Hard-Seltzer und sogar alkoholfrei: Neue Kategorien von Hybrid-Getränken und kreative Verpackungen werden in einer Branche, die bisher nicht für ihr Potenzial zum Umdenken bekannt war, wie Helden gefeiert. Die Spielregeln des Alkoholkonsums heutzutage sind andere, eine Veränderung, die von den Generationen X und Y vorangetrieben wurde. Weniger dazu bereit, in eine klare Schublade oder Demographie gesteckt zu werden, ziehen moderne Konsumenten das Besondere, Ausgefallene vor. Und die Branche verändert ihre gesamte Herangehensweise, „Firmen verkaufen Produkte nicht länger an Verbrauchergruppen, vielmehr verkaufen sie Produkte, die auf bestimmte Anlässe abzielen.“ Nehmen wir etwa das Beispiel von Luxemburgs führender Cider-Marke Ramborn Cider Co (Halle 7/Stand D34) und ihrem Motto „hergestellt wie Wein, getrunken wie Bier“. Heutzutage liegt der Schwerpunkt zu gleichen Teilen auf Qualität und Zugänglichkeit. Diese Offenheit hat in einem Markt, der zuvor von einer kleinen Anzahl großer Marken dominiert war, eine Vielzahl neuer Plätze für viele nicht-traditionelle und Nischen-Firmen geschaffen. Der Erfolg der „same but different“ Halle 7.0 in den letzten Jahren – im Jahr 2022 ausverkauft – betont den Wunsch der Verbraucher nach etwas anderen Drinks. Mit 120 Ausstellern aus 24 Ländern, die innovatives Handwerk und Hybrid-Drinks präsentieren, bietet die Trendschau viele Highlights.
Von besonderem Interesse ist die wachsende Anzahl nicht-alkoholischer Optionen, bei deren Produktion Nachhaltigkeit und Handwerkskunst eine gleichsam wichtige Rolle spielen. Der Dry Gin „Siegfried Wonderleaf“ von Siegfried Rheinland (Halle 7/B26), der 2018 sein äußerst erfolgreiches Debut feierte, wird vielen ein Begriff sein – und in diesem Jahr kommt eine wahrhaft schwindelerregende Auswahl internationaler Optionen hinzu. Endlich wird diese neue Vielseitigkeit präsentiert.
VON TRAUBEN UND GETREIDE
Während es in der Vergangenheit die Tradition war, die hochwertige Weine gedeihen ließ, wurde die Getränkebranche allgemein von Innovation angetrieben. Mischgetränke sind grundsätzlich zwar nichts Neues, die Drinks von heute kommen tatsächlichen Hybriden aber deutlich näher als die aromatisierten Faksimiles der 80er und 90er. Wein-Bier-Hybride haben in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt und die Co-Fermentation erlebt weiterhin einen Aufwärtstrend. Theoretisch sind Bier und Wein nicht weit voneinander entfernt – für die Weinproduktion wird der Zucker aus den Trauben benötigt, für die Bierproduktion der Zucker aus dem Getreide, beide Getränke durchlaufen alkoholische Gärung, gefolgt von der Reife. Zwar gibt es kein einziges „korrektes“ Rezept für ein Hybrid-Getränk, die klassische Version beinhaltet jedoch das gemeinsame Vergären der Bierwürze (Flüssigkeit, die während des Läuterns aus Brauwasser, Hopfen und gelöstem Malzzucker entsteht) und Most (durch das Keltern gewonnener Fruchtsaft) unter Verwendung der wilden Hefen von den Trauben. Dies kann einem Bier stark weinähnliche Eigenschaften verleihen, sowie Farbe und herben Geschmack betonen. In einigen Fällen sind die Brauer weiter gegangen, haben spezifisch nach ergänzenden Eigenschaften in Rebsorte und Biergrundlage gesucht. Ähnlich wie bei der Weinbegleitung zum Essen, die auf komplexe und fesselnde Ergebnisse abzielt, gemäß dem uralten Prinzip, dass die Gesamtheit besser ist als die Summe der einzelnen Teile. Weitere Co-Fermente werden immer populärer, darunter Hybride auf Cider-Basis mit Bier oder Wein, in manchen Fällen sogar Weine unterschiedlicher Früchten.
HARD SELTZER
Zu den großen Überraschungen an der Spitze des Hybrid-Marktes gehört mit Alkohol versetztes, kohlensäurehaltiges Wasser. Während 2018 14 Millionen Kisten des sogenannten Hard Seltzer verkauft wurden, hatte sich diese Zahl im Jahr 2021 mehr als vervierfacht! Laut dem im Februar diesen Jahres veröffentlichten „Hard Seltzer market Size and Share Report“ wurde das globale Marktvolumen von Hard Seltzer auf 8,95 Milliarden US-Dollar geschätzt, und man geht davon aus, dass es zwischen 2022 bis 2030 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 22,9 % weiter ansteigen wird. Während das Getränk in den USA ungefähr 2013 aus dem Nichts zu erscheinen schien, kann seine Popularität auf die 1990er und ein Produkt namens Zima zurückgeführt werden (ein Drink, der seiner Zeit entweder voraus war, oder einen besseren Marketing-Beauftragten benötigt hätte), das 2008 vom Markt genommen wurde. Hard Seltzer ist, wie oben erwähnt, ganz einfach viel spritziges Wasser, mit ein wenig Alkohol (von fermentiertem Zucker) und zugesetzten Fruchtaromen. Das heißt, es ist kalorienarm, enthält nicht viel Zucker, ist glutenfrei und der Alkoholgehalt liegt bei 4–6 %. Diese Kombination ist für die Generation Y und auch jüngere Verbraucher interessant, die gesundheitsbewusst leben möchten, Interesse an Getränken mit geringem Alkoholgehalt haben und auf transparente Zutatenangaben achten. Während die amerikanische Landschaft immer noch von der Marke White Claw dominiert wird, treten immer mehr (alkoholfreie) Getränkegiganten dem Wettbewerb bei – in den vergangenen Jahren mit Beispielen wie Hard Mountain Dew und Topo Chico. In Deutschland bringen viele Supermärkte ihre eigenen Marken heraus, was für bedeutende Verkaufszahlen bei Verkaufsstätten ohne Schankerlaubnis sorgt.
BITTER IST DAS NEUE SÜSS
Diese unendliche Geschichte hört bei kohlensäurehaltigem Wasser mit Fruchtaromen auch nicht auf. Kräuter-Aufgüsse und hochwertige alkoholfreie oder alkoholarme Getränke sind eine weitere, sich schnell entwickelnde Kategorie. Auf dem Weltmarkt wurde 2021 mit alkoholfreien/alkoholarmen Getränken ein Umsatz von fast 10 Milliarden US-Dollar gemacht, ein Anstieg von 7,8 Milliarden Dollar seit 2018, berichtet IWSR in einer strategischen Studie zu alkoholfreien und alkoholarmen Getränken aus dem Jahr 2022. Alleine in Deutschland wurde 2021 ein Anstieg von +2 % im Volumen verzeichnet. Auffällig ist, dass Zucker in dieser schönen neuen Welt, in der Bitter das neue Süß ist, häufig keine Rolle spielt. Sicherlich wurzelt dieser Trend auch in der vermehrt kritischen Berichterstattung zu den Gesundheitsauswirkungen von Zucker in konventionellen Cola-Getränken und Limonaden, das erklärt jedoch nicht die Kreativität in dieser Kategorie. Die neuen Produkte von Jörg Geiger (Halle 1/E150), Dr. Jaglas (Halle 7/B04), Weingut Leitz/Rheingau und Kolonne/Null (Halle 1/A64) sind Beispiele dafür. Diese im Aufschwung begriffene Kategorie nimmt einen immer wichtigeren Platz in den regulären Portfolios der Weinproduzenten weltweit ein. Und die Produkte werden mit den selben Qualitätsansprüchen hergestellt und abgefüllt – und auch dem selben Preis wie die reguläre (alkoholische) Palette.
Die Getränkewelt erlebt einen massiven Umbruch. Viele erfindungsreiche Produkte, die vor wenigen Jahren vom Handel sofort abgelehnt worden wären, werden von den Verbrauchern heute mit offenen Armen empfangen. Die klaren Grenzen zwischen Bier, Limonade und Spirituosen verschwimmen und Getränkegiganten betreten diese neue Landschaft mit der Absicht, durch die Diversifizierung einen Teil des Umsatzwachstums einstecken zu können. Aufgrund des rapiden sozio-kulturellen Wandels der letzten Jahren und der steigenden Bedeutung der sozialen Medien bei der Gestaltung von Konsummustern, existiert der berechenbare und verlässliche Verbraucher der Vergangenheit nicht mehr. Um relevant zu bleiben, ist radikales Umdenken nötig – die Verbraucher müssen dort abgeholt werden, wo sie sind, nicht dort, wo erwartet wird, dass sie sein müssten.
Paula Redes Sidore und Stuart Pigott werden die besten Beispiele auf der Bühne und im Glas präsentieren, auf der Prowein 2022, im Rahmen der Trend Hour Verkostung am 15. und 16. Mai von 17:00–18:00 Uhr.