Unverhofft zum Winzer
Ebenso wie bei Stirbey gilt auch bei der Familie von Degenfeld im ungarischen Tokaj das Motto „Adel verpflichtet“. Auch das Weingut des Pioniers Graf Imre Degenfeld, 1857 Gründungsmitglied des Weinbauverbandes von Tokaj-Hegyalja, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kommunisten enteignet. 1994 ersteigerten Marie Gräfin Degenfeld und ihr Mann Dr. Thomas Lindner einen Teil des alten Besitzes zurück. Zwar hatte sich die Familie Degenfeld in den vergangenen Jahrzehnten längst in Deutschland eine neue Existenz aufgebaut – aber die emotionale Verbundenheit mit Ungarn war geblieben. Zum Weingut Gróf Degenfeld gehören heute 100 Hektar bester Tokaj-Lagen sowie ein komfortables Hotel. Und auch wenn Marie Gräfin Degenfeld den Weinausbau lieber ihrem ungarischen Kellermeister überlässt, so ist sie doch im In- und Ausland die beste Botschafterin für die feinen Tropfen der Familie aus Tokaj. Auf der ProWein gehört sie seit vielen Jahren zum vertrauten Bild.
Dass man manchmal ganz unverhofft zum Winzer werden kann, hat unterdessen im gleichfalls zu Ungarn gehören Rotwein-Mekka Szekszárd der 44jährige Markus Schieber erfahren. Mit einem Abschluss der Uni Hohenheim für Agrarwirtschaft ausgestattet, zog es ihn 1997 in die Donauebene südlich von Budapest, wo er heute mehr als 4.000 Hektar Land beackert. Vor drei Jahren kauften Markus Schieber und seine ungarische Ehefrau Anita, eine studierte Juristin, ein 30 Hektar großes Weingut in Szekszárd, das sie seither mit viel Elan neu strukturieren.
Auch Jürgen Wagner, Diplom-Önologe mit Geisenheim-Abschluss, hat sich 1999 auf ein Abenteuer eingelassen – nur dass seines im katalanischen Priorato begann. Die Genossenschaft Celler de Capçanes mit ihren 200 Hektar Flächen im steinigen, schwer zugänglichen Bergland bei Tarragona, hatte gerade mit ihrem ersten koscheren „Flor de Primavera“ weltweit für Furore gesorgt. Und seitdem schreibt der gebürtige Heidelberger an einer Erfolgsgeschichte mit, die es bis ins „Wall Street Journal“ geschafft hat. In Capçanes, das zum Anbaugebiet Montsant gehört, werden aus bis zu 100 Jahre alten Garnacha-Stöcken Weine erzeugt, die in Sterne-Restaurants von Bensberg über Paris, New York, San Francisco und Montreal bis hin nach Tokio, Shanghai oder Bangkok auf der Karte stehen. Zum Rebsortenspektrum von Capçanes gehören auch Cariñena und Samsó, sowie etwas Cabernet Sauvignon, Merlot, Syrah und Tempranillo. „Capçanes ist mein Baby“, sagt der 42jährige stolz. Damit dieses weiter kräftig wächst und gedeiht, ist Wagner mehr als drei Monate im Jahr weltweit unterwegs auf Promotion-Tour, während sein Kollege Angel Teixido sich auch in dieser Zeit um die Weine im Keller kümmert. Zu den Fixterminen im Kalender von Jürgen Wagner zählt freilich einer jedes Jahr Ende März in Düsseldorf: die ProWein als inzwischen weltweit wichtigste Weinhandelsmesse.
Thomas Brandl