Die Anbaubedingungen im südwestlichsten Zipfel Frankreichs sind derart gut, dass sich schon die antiken Griechen darin verliebten. Nachdem sie im 7. Jahrhundert vor Christus ihre erste Kolonie in Marseille zum Weinbaustandort ausgebaut hatten, entdeckten sie die Region am Fuß der Pyrenäen als Rebland für sich. Die Römer, die nach ihnen kamen, bauten ihre Provinz Narbonnaise zu einer Handelsdrehscheibe aus. Beide erkannten die geradezu idealen
Standortfaktoren für den Weinbau: Das Roussillon bildet einen Talkessel, der von drei Bergzügen und dem Meer im Osten eingekreist ist. Gern wird die Formation als Amphitheater bezeichnet, weil sich die steilen Hänge mit ihren Terrassen wirklich wie eine antiker Zuschauerraum zum Mittelmeer im Osten öffnen. Von Westen fließen die drei Flüsse Agly, Têt und Tech fast parallel durch eine fruchtbare Ebene.
In dem mild-mediterranen Klima mit über 2500 Sonnenstunden fällt der wenige Regen in nicht mal hundert Tagen und oft in heftigen Gewittern. Das macht das Roussillon zu einer der trockensten Regionen Frankreichs. Um das Wasser ganzjährig aus dem Boden zu ziehen, müssen die Reben tiefe Wurzeln schlagen. Regelmäßige Fallwinde von den Bergen sind außerdem ein guter Schutz vor Pflanzenkrankheiten. Seinen guten Ruf rettete der Wein der Region ins Mittelalter, wenn auch mit Abstrichen. Messwein wurde jedenfalls gebraucht. Karl der Große, der in Nordeuropa den Weinbau kräftig förderte, sah an der Grenze zur iberischen Halbinsel aber vor allem eins, ein Einfallstor für den Islam. Deshalb gründete er eigens einen Pufferstaat, die Grafschaft Rosselló, die der Region später den Namen gab.
Hätte die Abschottungspolitik wirklich funktioniert, wäre allerdings einer der besten Weine der Welt verloren gegangen. Süßweine mochten schon die Zeitgenossen, gewannen sie aber vor allem durch Austrocknen und Überreifen der Trauben. Dann wurde noch einmal mit Honig nachgeholfen. Da traf es sich gut, dass Arnau de Vilanova, der maurische Medicus des Königs von Mallorca und Rektor der Universität von Montpellier, 1285 die Destillation entdeckte. Den frisch erfundenen Weinbrand setzte man gärendem Most zu, stoppte so die Hefeaktivität und erhielt die Fruchtsüße. Der Vin dou naturell war geboren.
Bis heute hat sich daraus im Roussillon eine einmalige Auswahl an
Süßweinen entwickelt. Aus der Appellation Rivesaltes, die auf Deutsch „Hohe Ufer“ bedeutet, kommen bernsteinfarbene Ambrés und ziegelrote Tuilés. Ihre Farbe und ihr Aromenspektrum von Quitte bis Kaffee verdanken sie starker Oxidation, die „brutale“ genannt wird, wenn sie draußen in Glasballons statt findet. Der berühmteste Süße ist der Banyuls, der von Terrassen stammt, die mitunter so steil sind, dass sie mit Maultieren bewirtschaftet werden müssen. Auch hier gibt es eine breite Palette: zitrusfruchtige Weiße und viele Jahre gereifte Traditionels mit nussiger Rancio-Note. Rimage, der seine tiefen Fruchtnoten durch lange Matzeration auf der Maische bekommt, gibt es nur in guten Jahren. Als Mise Tardive werden sie mehrere Jahre gealtert und entwickeln dabei eine überwältigende Komplexität und Konzentration.
Die Muscats de Rivesaltes sind eine Cuvée von Muscat d’Alexandrie und Muscat de petits grains und ergeben exotisch-fruchtige Bukettweine mit dem Duft von weißen Blüten. Die Möglichkeiten sind so vielfältig, dass über 80 Prozent des französischen Süßweins aus dem Roussillon kommt. Außer bei den Spitzenweinen sind die Preise sogar sehr moderat, wobei oft ein weiterer Aspekt untergeht. Dass solche Weine mit hohem Zuckergehalt haltbar sind, liegt auf der Hand. „Vins dous sind aber extrem alterungsfähig“, erklärt Eric Aracil, der seit vielen Jahren für den Herstellerverband arbeitet. In Vertikalproben zeigt er Weine, die sechzig, achtzig oder über hundert Jahre alt sind – und noch überraschend frisch.