Craft Beer – Kellergeister auf Erfolgskurs

Zuerst waren es nur ein paar schrullige Liebhaber, die sich im Keller mit einem Brau-Set ausprobierten. Heute ist Craft Beer das Versprechen auf handwerklich gemachtes Bier, bei dem Qualität immer wichtiger ist als Marketing. Klein und möglichst inhabergeführt punkten die Brauereien mit viel Individualität gegen weltweite Marken. Mit so viel Erfolg, dass sie überraschend groß sind

„Gebraut zum Trinken, nicht zum Sezieren.“1 Das waren deutliche Worte, die Budweiser in einer TV-Werbung fand. Dazu schnüffelten ein paar stereotyp bebrillte Nerds in Cardigans und Karohemden an Craft Beer Gläsern. Ganz im Gegensatz zu den lebensbejahenden Budweiser-Trinkern, die über deren „Pumpkin Peach Ale“ nur die Nase rümpfen können. Zum Super Bowl Finale 2015 sahen 114 Millionen Menschen den Film.

Warum hatte Budweiser, die wohl ikonischste amerikanische Biermarke, neun Millionen Dollar für einen Werbespot ausgegeben, nur um dem Land zu sagen, dass Craft Beer Trinker doof sind? „There’s only one Budweiser“, versicherte der Hersteller seinen Kunden noch. Nicht nur Tschechen hätten das besser gewusst.

In Wirklichkeit ist Craft Beer weniger das Faible einiger Spinner, wie es Budweiser-Fabrikant Anheuser Busch InBev (ABI) andeutet, sondern eine ernsthafte Konkurrenz. Der amerikanische Markt, den Massenmarken wie Bud & Co. Jahrzehnte lang bequem unter sich aufgeteilt hatten, hat satte zwölf Prozent seines Umsatzes an Craft Beer verloren. Und, vielleicht schlimmer für Bud, vor allem gutverdienende weiße Männer zwischen 20 und dreißig lassen sich die intensiven Tropfen schmecken. Also genau das Völkchen, das doch eigentlich zu Budweiser greifen sollte. Statt dessen flossen letztes Jahr 67,8 Milliarden Dollar (64,5 Milliarden Euro) in die Kassen der Kleinhersteller.

Um gegen zu steuern, hatte der Getränke-Riese ABI selbst einige der profitabelsten Craft Brauereien gekauft. Darunter die Elysian Brewing Company mit Sitz in Seattle und Erzeuger zweier „Pumpkin Ales“. Für solche Biere suchen Craft Brewer aus rund hundert Malzsorten, 200 Hefe- und Hopfenarten meist besonders expressive Typen heraus. Zusammen mit einer gekonnten Steuerung des Gärprozesses entstehen so Aromen wie Zitrone, Harz, Grapefruit, Schokolade, Rauch und Maracuja. Auch Zusätze wie Holunder oder Kaffee sind gängig.

Viel Körper und komplexe Aromen faszinieren Biertrinker, weil sie sie vorher vielleicht nie in einem Bier geschmeckt haben. Dazu kommen Unternehmensgeschichten, die mal in Garagen, mal in Kellern anfangen. Die Namen der altvorderen wie Fritz Maytag oder John Bell werden bis heute mit Respekt genannt. Viele fingen als Hausbrauer an.

Craft Beer ist etwas für Leute, die den Genuss über den Preis stellen. Fünf Dollar für ein Bier in der Kneipe sind nicht jedermanns Geschmack. Heute trifft die Machart den Zeitgeist von Hipstern und Ökos und ist so ein Marktphänomen mit gesellschaftlicher Komponente geworden. Die Verbreitung reicht über szenige Bars hinaus. Food Blogger loben die neuen Tropfen, Gastronomen suchen eifrig die Zusammenarbeit und kombinieren Bier mit Jakobsmuscheln und Foie gras. Glashersteller bieten üppige Glasformen zur Degustation an. Hochschulen forschen an neuen oder vergessenen Hefestämmen.

Besonders in Kalifornien mischt sich das Bier mit dem Trend zur Regionalität. Über 750 Brauereien operieren im Sunshine State, nicht wenige liegen in Wohngebieten, und legen Wert auf den direkten Bezug zur Nachbarschaft.

Mit dem anhaltenden Erfolg ist die Branche aber nicht mehr ganz so famliär. Deshalb unterscheiden Amerikaner Vertragsbrauer, die eine externe Brauerei mit der Herstellung beauftragen, und Brauereiausschänke. Mikro-Brauereien dürfen bis zu 1,79 Millionen Liter (15,000 Barrel) ausstoßen, „Regional Craft Beer Breweries“, die rund drei Viertel der Produktion ausmachen, bis zu 715 Millionen Liter (6,000,000 barrel). Erst darüber gilt eine Brauerei als „large“.

Die Mehrheit der Biere muss mit „traditionellen oder innovativen Brauzutaten“ hergestellt werden, was definitorisch einigen Spielraum lässt. Generell sollen Craft Breweries weniger mit Werbung und mit niedrigen Preisen konkurrieren als mit Qualität. Idealerweise produzieren kleine Betriebe viele Sorten aus natürlichen Rohstoffen.

Dosenabfüllung, die zunächst mit dem Stigma der Massenproduktion behaftet war, ist erlaubt. Einiges läuft auf die Frage hinaus: was ist Craft Bier? Ähnlich wie beim Naturwein.

Von der Götterwelt zum Hightech-Drink

Historische Vorbilder sind beliebt. Bier ist die älteste Getränkezubereitung der Menschheit, älter als Wein. Durch den Vergärungsprozess stand erstmals ein lagerfähiges Nahrungsmittel zur Verfügung, das Konsumenten weniger abhängig vom Wetter und dem Jagderfolg machte. In der Neolithischen Revolution, der Zeit, in der Menschen sesshaft wurden und sich mehr kulturellen Themen widmen konnten, schreiben manche Forscher dem Bier deshalb ein wichtige Rolle zu. Die Sumerer, die 3000 vor Christus zwischen dem heutigen Bagdad und dem Persischen Golf lebten, entwickelten die erste Schrift und brauten Bier. Im Großraum Mesopotamien wurden bald zwanzig verschiedene Sorten gebraut. Bis nach Nordeuropa verwandelten sich ganze Volksstämme in leidenschaftliche Biertrinker.

Die gesellschaftliche Relevanz ging über das reine Lebensmittel deutlich hinaus. Sumerer, Ägypter, Römer, Germanen, Kelten, Christen, fast alle Zivilisationen, die eine Bierkultur entwickelten, projizierten einen religiösen Gehalt in das Getränk und ordneten ihm eine Bedeutung in der Götterwelt zu.

Die ausschweifenden rituellen Trinkgelage der Germanen nahm der römische Geschichtsschreiber Tacitus eher etwas betreten zur Kenntnis. Ihren Innovationsschub in der Herstellung erkannte er nicht. Sie brauten statt mit Brot, mit gekeimten und getrockneten Getreidekörnern und kochten die Maische. Die Malzdarre und das Sudkochen gibt es bis heute. Auch Zusätze wie Honig, Früchte, Kräuter oder psychoaktive Substanzen waren üblich, womit diese Biere mehr mit Craft Bier gemeinsam hatten als viele heutige.

In den folgenden Jahrhunderten brachten Hopfen als entscheidender Geschmacksverbesserer, kältefeste Hefen, Louis Pasteurs Erkenntnisse über die Gärung und die Erfindung der Kältemaschine die entscheidenden Fortschritte. Der Technologiesprung war so beeindruckend, dass das Lagerbier auf der Weltausstellung von Paris 1857 neben Innovationen wie dem Fahrstuhl und Stahlbeton vorgestellt wurde.
Im südostasiatischen Raum entwickelte sich das Brauwesen ebenfalls, aber in eine anderen Richtung auf der Basis von Reis. Hopfen war unbekannt und Malz lange nicht besonders geschätzt. Sake ist technisch ein Bier, dass durch die Umwandlung von Stärke in Zucker, dann in Alkohol entsteht.

Lange entschied das Wasser und seine Härte über die Qualität des Brauprozesses. Alle Bierstile entstanden um passende Quellen. Heute kann man Wasser enthärten oder eben härter machen, was den Brauprozess grundsätzlich vom Standort unabhängig macht. Fluch und Segen: Bier kann man heute fast überall und in jeder Qualität machen.

Industrialisierung und gesellschaftliche Entwicklung waren es, die letztlich zu sehr einheitlichen Produkten führten. Von den über 4000 Brauereien Ende des 19. Jahrhunderts existierte kurz vor Ende der Prohibition in den USA offiziell keine mehr. Ein Kahlschlag, von dem sich das Land lange nicht erholen sollte. 1965 erzeugten sechs Brauereien 80 Prozent des amerikanischen Biers.

International entstanden immer größere Zusammenschlüsse von Brauereien mit immer größeren Produktionskapazitäten. Auch wenn Traditionsbiere wie in Belgien und Tschechien blieben, verschwanden viele kleine Brauereien. Der Verschmelzungsprozess dauerte bis in das 21. Jahrhundert an.

Erst 2015 zählte man wieder 4265 Brauereien auf amerikanischem Boden. Die Mehrheit der Amerikaner hat es nicht weiter als 16 Kilometer (10 Meilen) zur nächsten Craft Brewery. Alle zusammen haben Budweiser 2013 mit fast zwei Milliarden Liter (16,1 Millionen Barrel) absatzmäßig überholt. Bis 2015 schnellte der Umsatz dann noch einmal von 2,5 auf fast 4,1 Milliarden Liter (15 auf fast 25 Milliarden Barrel) hoch.

Auf ein Bierchen mit Michael Jackson

Die Craft Beer-Bewegung ist heute mit 10000 Brauereien auf der ganzen Welt verbreitet. Vor allem aus Großbritannien, wo sich Bierliebhaber schon in den siebziger Jahren zur Campaign For Real Ale zusammen schlossen, kamen wichtige Impulse von kleineren, inhabergeführten „nano breweries“ und "farmhouse breweries", die einen Teil ihrer Brauzutaten landwirtschaftlich selbst erzeugen. Der britische Kritiker Michael Jackson avancierte mit seinen Buch „World Guide to Beer“ bereits da zum weltweit einflussreichsten Kritiker.

Mit zwischen 1540 und 1880 Brauereien nach verschiedenen Quellen hat Großbritannien die größte Brauereien-Dichte Europas. Andererseits leidet das Land an immer weiter steigenden Alkoholsteuern. Derzeit sind die Abgaben 14 Mal höher als in Deutschland. Selbst Jahrhunderte alte Gastronomien fallen dem Pub-Sterben zum Opfer. „Brew pubs“ hingegen florieren. Eine Mittelstadt wie Bristol hat zehn davon. Viele Craft Beer Produzenten vermarkten lieber auf Festivals als in Supermärkten.

Der Einfluss der guten Tropfen ist allerdings größer als der Marktanteil von zwei Prozent – wie fast überall außerhalb der USA.

Vor allem der stilistische Einfluss Großbritanniens ist international bedeutend. Die vielen sehr unterschiedlichen englischen Bierstile vom milden Ale zum kräftig-dunklen Stout wurden wieder neu belebt und interpretiert. India Pale Ale (IPA), ursprünglich angeblich transportfähig für britische Seeleute auf der Passage nach Indien, sind mit hohem Alkoholgehalt und einer guten Portion Hopfen eine Art Blaupause für modernes Craft Beer. Nach alter Brauart mit obergäriger Hefe und hellem Malz hergestellt, geben sie eine optimale Spielwiese für geschmackliche Experimente ab und haben sich damit fest im Markt verankert.

Eine weitere Spielart mit dem Zeug zum Erfolg sind fassgelagerte Biere. Hier kommen die Brettanomyces-Hefen ins Spiel, die moderne Brauer mit ihren Aromen nutzen.

Gegen die Erwartung haben die klassischen Weinländer Frankreich und Italien eine lebendige Craft Beer Szene. Sie profitieren von der wachsenden Popularität von Bier unter jüngeren Leuten. Zwischen 2010 und 2015 verdoppelte sich die Zahl der Mikro-Brauereien in Frankreich, Italien und der Schweiz. Länder wie Portugal (von 0 auf 60), Schweden (von 34 auf 214) und Spanien (von 46 auf 409) legten atemberaubende Wachstumsraten hin.

“Beer is back”, triumphierte kürzlich Pavlos Photiades, Präsident der Europäischen Brauerunion. Mit rund 7500 aktiven Brauereien 2015 sei Bier derzeit das wertmäßig am schnellsten wachsende Segment des landwirtschaftlichen Sektors.

Auch in Belgien wurden die einmaligen spontan vergorenen Lambics, die historischen Kloster- und Trapistenbiere nach dem II. Weltkrieg von großen Marken zurück gedrängt. Mit den achtziger Jahren kam aber auch hier Aufschwung. Die einmalige Bierkultur Belgiens zählt die UNESCO zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit.

In Deutschland ist die Szene verhältnismäßig klein. Es gibt über tausend Brauereien, gern mit Ausschank, von denen viele schon immer individuelle Biere gebraut haben. Nach amerikanischer Definition sind ohnehin 95 Prozent der Brauereien „small“ und zahlen eine geringere Biersteuer.

Die Branchenstruktur ist noch immer vom Reinheitsgebot geprägt, mit dem der Herzog von Bayern 1516 die Brauzutaten auf Gerste, Hopfen und Wasser beschränkte. Zweck war, die Produktion von Weizenbier mitsamt Gewinnen auf die herrschaftlichen Höfe zu beschränken und die Preise für Gerstenbier zu deckeln. Verbraucher lieben das Gesetz bis heute, obwohl es so einige Zusätze und Tricks ermöglicht. Biochemische Veränderungen sind immerhin nicht erlaubt, ebenso wie Aktivkohle, Gelatine, Eiweiß, Hausenblase, die in der Weinbereitung legal sind. Über die Art des Anbaus – biologisch oder mit viel Agrarchemie – sagt das Gesetz allerdings nichts aus. Der ursprüngliche Ansatz, die Bierpreise auf ein bis zwei Pfennig zu deckeln, ist auch passé.

Craft Beer Brauer mit Ambitionen für Zusätze haben es in Deutschland schwer und müssen sich mit Bezeichnungen wie „Ale“ oder „Stout“ helfen. Dennoch brummt die Szene. Die großen Brauerei-Unternehmen haben mit Blick auf dem amerikanischen Markt schnell reagiert, stellen selbst Craft Beer her und kaufen Brauereien. Die größten Anbieter von Craft Beer wie Craftwerk und Braufactum sind in Händen von Herstellern wie Bitburger und Radeberger, die unter anderem das spanische Bier „Estrella“ unter Einsatz von Reis, Mais und dem Stabilisatoren E 405 Propylen Glykol Alginat braut und zum Lebensmittel-Multi Oetker gehört.

Von den 395 Millionen Hektolitern Bier – Tendenz steigend – in der EU hat Deutschland mit 96 Millionen Hektoliter 2015 den größten Bierausstoß und -verbrauch in Europa – Tendenz fallend. Auffällig ist, dass es in großem Umfang ein Brauereisterben besonders in Bayern gibt, wo es die meisten kleinen Traditionsbrauereien gibt.

Bei sinkendem Konsum geben die Deutschen trotzdem mehr Geld pro Flasche aus. Angesichts niedriger Steuern und vergleichsweise guter Durchschnittsqualität stößt so mancher Craft Brewer in Deutschland mit seiner Preisgestaltung an Grenzen. Viele Deutsche sind einfach nicht bereit, die saftigen Aufschläge zu zahlen. Der Marktanteil liegt bei geschätzten 0,3 Prozent.

Die alteingesessenen Marken sind noch lange nicht tot. Das Super Bowl 2016 gewannen die Denver Broncos. Ihr legendärer Quarterback Peyton Manning versprach noch im Feld-Interview nach dem Spiel vor der gesamten Nation, abends „ein Menge Budweiser zu trinken“.1 Echte Craft Beer Fans haben die Broncos an dem Abend nicht gewonnen.

Matthias Stelzig

Quellen:
Brewer’s Association
Beer Marketer’s Insights
Brewers of Europe
Verband Private Brauereien