„Wir ernten etwa hundert Tonnen Trauben im Jahr“, erzählt Tanya Avramova, das macht rund 100.000 Flaschen, „und wir könnten noch mehr. Von Wein im kleinen Stil kann man hier nicht leben.“ Für ein fünf Jahre altes Privatweingut ohne größere Geldgeber im Rücken klingt das etwas forsch. Ist aber nicht unbedingt falsch und beschreibt in seiner Gegensätzlichkeit die Situation so vieler kleiner Betriebe in Bulgarien.
„Trotzdem füllen wir nicht alles ab. Der Markt gibt es nicht her“, erklärt die Winzerin. Ihr geht es wie so einigen Privatbetrieben im Land. Die Hürde zur profitablen Vermarktung ist hoch. Tanya und ihr Mann haben den Betrieb 2009 übernommen. Ihre Familie macht seit Generationen Wein. Sie waren Selbstversorger, wie die meisten Bulgaren, die damit als Kunden ausfallen. Es nützt also nichts, auf Absätze in der Region zu hoffen. Man muss ein größeres Rad drehen. „Selbst als Kleinbetrieb“, sagt Avramova, „bleibt einem nicht viel anderes, als den Export zu suchen.“
Dabei sind die Anbaubedingungen günstig. Die Böden aus Sand, Lehm, Quarz und etwas Kalk sind vielversprechend für Wein wie auch die klimatischen Bedingungen. Bulgarien liegt etwa auf dem Breitengrad von Bordeaux. Niederschläge fallen meist im Frühjahr und im Sommer, wenn die Reben sie brauchen und das Thermometer manchmal auf 40 Grad steigt. Der Herbst ist trocken. Die Tage sind heiß bis in den Oktober und die Nächte kontinental kalt. Aber unter dem Einfluss der asiatischen Festlandsmasse werden die Winter eisig.
Neben Gebirgsregionen wie Pirin und Rhodopen sind flache Hügel die häufigste Oberflächenformation. Reben stehen nicht nur an den Hängen, auch in den Flusstälern. Hier bieten Sedimentgestein und kalkhaltiger Löss gute Grundlagen. An den Hängen sind es kalkige Löss- und tonhaltige Verwitterungsböden, in den höchsten Flächen karge Steinböden.
„Das Terroir kann hier auf ein- bis zweihundert Metern drastisch wechseln“, erklärt Goblets Dimyat. Der ehemalige Rugbyspieler hat sich nach dem ersten Karriereende mit seiner Villa Bassarea eine zweite Herausforderug als Winzer gesucht. Einer seiner Weine heißt Bassareus. Das ist der thrakische Name für Dionysos. Auf den ersten Blick wirkt das etwas weit hergeholt. Die Geschichte eines Weinbaugebiets nutzen viele Winzer auf der Welt als schmückendes Beiwerk, um etwas mit Romantik zu punkten. Gern beruft man sich darauf, dass schon Römer oder Griechen hier ihren Wein anbauten. Aber für das Selbstverständnis ist das eigentlich unwichtig. In Bulgarien ist das anders.
Die Thraker waren in der griechischen Antike die größte ethnische Gruppe der Region und führend unter anderem in der Metallverarbeitung. Das belegen aufwändig verzierte Trinkbecher aus Gold, die in Grabhügeln gefunden wurden. Vom Balkan bis nach Kleinasien entwickelten sie vor 3000 Jahren ihre Weinkultur. Eine Schrift benutzten sie nicht. Aber die Kulte sind auf Vasen und Gemälden dargestellt. Sie tranken Wein, tanzten und sangen dazu. Spartakus und der mythische Dichter Orpheus sollen aus Thrakien stammen, ebenso wie das Konzept des Dionysos. Der Rausch- und Party-Kult des Weingottes wurde einer der beliebtesten in der antiken Welt und darüber hinaus. Noch Friedrich Nietzsche sah in der Rausch-Vorstellung ein Prinzip der menschlichen Existenz.
Den Griechen, die in der Antike ein Selbstbild pflegten, an dem nicht mehr viel zu verbessern war, galten die Thraker als etwas raubeinig und trinkfest. Doch auch sie kamen an einer gewissen Bewunderung für die Nachbarn nicht vorbei. Ihre Waffen und Pferde, „schnell wie eilende Winde“, waren berühmt, schwärmte schon Homer. Nach der Schlacht, beobachtete der einflussreichste Dichter Griechenlands, tranken die Krieger einen schweren Wein. Und der war aus eigener Produktion. Thrakischer Wein wurde später vor allem mit modernen Anbaumethoden der Römer ein Exportschlager und bis nach Ägypten exportiert. 681 gründete sich der Staat Bulgarien, und in der Hauptstadt Preslaw entstanden Tavernen. Die Herrschaftshäuser führten gut ausgestattete Weinkeller, und auch in den vielen Klöstern wurde Qualitätswein hergestellt.
Mit der 500-jährigen türkischen Herrschaft bis 1878 lag der Weinbau in Bulgarien jedoch im Wortsinn brach. Bulgarien brachte nie mehr einen Wein vom Ruf eines Tokajers oder Burgunders hervor. Während der Weltkriege stand Bulgarien auf Seiten der Mittel- resp. Achsenmächte. Das machte nichts besser. Nach 1945 prägten sozialistische Monopole den Weinbau, die mit industriellen Methoden vor allem Masse wollten. Bulgarien stieg zum zweitgrößten Weinproduzenten der Welt auf, der vor allem die Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags mit Wein versorgte. 1991, nach der Auflösung des Militärbündnisses, als fast überall auf der Welt in den geeigneten Breiten technisch gute Weine abgefüllt wurden, stand Bulgarien mit riesigen Kapazitäten und veralteter Sowjet-Technik da. Die meisten Exportmärkte in den ehemaligen Bruderstaaten schwächelten. Dafür kam ein freier Weltmarkt, auf dem Bulgarien weitgehend unbekannt war. Die Exportrate stürzte von 85 Prozent auf 50 Prozent. Nicht wenige Hersteller suchten ihr Heil im Preis Dumping – und fügten dem Ruf Bulgariens damit einen teuren Schaden zu.
Mit der Abwicklung des alten Systems wurden Flächen kleinteilig an Bauern verteilt, die oft weder Interesse, noch die Möglichkeit hatten, sich im Exportmarkt zu behaupten. Nicht wenige Rebgärten blieben unbearbeitet. Investoren brauchen noch heute langen Atem, um zusammen hängende Flächen zu kaufen. Landwirtschaftliche Aufbauprogramme der EU ab 1999 entspannten die Lage etwas.
Raucher mit Schwäche für Burgunder
Seit 2007 ist Bulgarien Mitglied in der EU und hat ein konformes Weingesetz. 40 Milliarden Euro Landwirtschafts-Subventionen der EU halfen auch. Genussmittel sind beliebt in Bulgarien. Es gibt eine Tabakindustrie, Raucher sind im Straßenbild selbstverständlich. Bulgaren trinken gern Alkohol, auch Wein. Im EU-Vergleich sind Importweine teuer. Trotzdem machen 3,4 Millionen Liter davon im heimischen Fachhandel einen kleinen, breit gestreuten Anteil aus.
Doch „die Hälfte der 7,3 Millionen Bulgaren lebt auf dem Land und ist Selbstversorger“, erklärt Ivo Varbanov. „Der Inlandsmarkt ist also klein.“ Der Winzer macht unter anderem einen Chardonnay, dessen filigrane Komplexität seine Liebe zur Bourgogne durchscheinen lässt. Viele Weinmacher suchen ihre Vorbilder in Frankreich, Lagen werden sehr ernst genommen. Doch auch Varbanov schafft es nicht allein. Für seinen Brot- und Butter-Job lebt er als klassischer Pianist in London. Das lohnt sich nicht nur wegen des besseren Lohnniveaus. Auch seine Kontakte zu Vertriebspartnern in Großbritannien sind Gold wert. Davon kann man auch in der Domaine Boyar ein Lied singen. Der größte bulgarische Weinproduzent wurde 1999 gleichzeitig in London und Sofia gegründet. Listungen in englischen Supermärkten sind bis heute Gold wert, weiß Rosen Georgiev. Boyar verkauft dort einige Premiumweine, deren Produktion in Bulgarien ein hauseigenes Labor überwacht. „Wir haben in den letzten 25 Jahren die Weinbautechnik eines Jahrhunderts aufgeholt“, erklärt der Exportmanager stolz und etwas genervt davon, dass viele Kunden im Ausland vor allem billigen Wein aus Bulgarien erwarten.
Seit 2006 hat sich die bulgarische Anbaufläche auf rund 60.000 Hektar halbiert. Dabei fielen nicht wenige Flächen, die seit Jahren nicht bewirtschaftet wurden, endgültig aus der Statistik. 2015 wird ein Produktionsumfang von 175 Millionen Liter Wein erwartet. Die Absätze schwanken aber. Allein von 2012 auf 2013 gingen die Gesamtexporte von 35 Million auf 15 Millionen Liter zurück. Russland, wo rund ein Drittel der bulgarischen Weine getrunken wird und sich die Politik immer wieder in die Außenwirtschaft einmischt, gilt als unsicherer Kantonist. Die niedrigen Margen und die Wechselhaftigkeit des Markts sind die größten Probleme des bulgarischen Weins. Das EU-Land mit der stabilen Währung, die zuerst an die D-Mark, dann an den Euro gekoppelt wurde, einem vergleichsweise ordentlichen Staatshaushalt, seinen niedrigen Produktionskosten und Steuern kann seine Trümpfe noch nicht richtig ausspielen.
Und da gibt es einige. Cabernet Sauvignon und Merlot sind die meist angebauten Rebsorten. Es gibt sie in Bulgarien schon seit Jahrzehnten. Die Böden in der Region Sakar aus Lehmkalk und Granit sind besonders gut für Merlot geeignet, das erkannte Michel Rolland. Der weltreisende Star-Önologe berät schon lange eine ganze Reihe Winzer im Land. Weine der Rebsorten können international gut mithalten. Einer der Vorteile der gekappten Traditionen ist, dass die Türen für Experimente offen sind. Castel Rubra wurde 2000 mit einer Investition von 30 Millionen Euro aus der Taufe gehoben. Heute stehen auf 150 Hektar um Kolarovo mehr als ein Dutzend Sorten vom einheimischen Rubin bis Petit Verdot und Weinen mit internationalem Profil, ebenfalls von Michel Rolland kreiert. Die Ergebnisse können sich sehen lassen.
Dieses Potenzial Bulgariens hat sich herumgesprochen. Miroglio, italienischer Textilunternehmer, der seit 1985 das Barolo-Weingut Tenuta Carretta führt, sieht unter anderem große Chancen für Pinot Noir und stellt daraus einige komplexe Schaumweine her. Italien ist der größte Exportmarkt für bulgarischen Sekt. Die moderne Kellerei ist spiralförmig auf der Spitze eines Bergs errichtet mit Untergeschossen im Berg. So wird mit Gravitation gearbeitet. „Wir haben viel mit Melnik, Mavrud und anderen autochthonen Sorten probiert“, erzählt Franco Miroglio. „Besonders Mavrud gefällt uns gut - auch wenn sie noch kaum ein Mensch kennt“. Dionysos und Orpheus dürften die autochthone Sorte gekannt haben, sie stammt aus Thrakien. Der Wein aus den dickschaligen roten Beeren schmeckt dicht nach Brombeeren und Schokolade, ist gut für den Barrique-Ausbau geeignet. Die alterungsfähige Traube gehört zu den Feinsten des Landes.
Fast vergessener Weihrauch
Andere werden erst wieder entdeckt. Die Bukettsorte Tamianka, wörtlich Weihrauch, war fast verschwunden. Önologen des Weinguts Terra Tangra besorgten sich ihre Klone in der Samenbank von Montpellier. Die Weine mit Aromen von Hyazinthen und Kräutern sind sehr eigenständig. Tangra ist ein thrakischer Gott, der für den Himmel und des Sinns des Lebens steht und dem Weingut Terra Tangra seinen Namen leiht. Auch hier sucht man den Bezug zur Antike mit Inbrunst. Tangra wurde in den vierziger Jahren von dem Dorflehrer Mikola Zasichev gegründet. „Als die Kollektive in den neunziger Jahren abgewickelt wurden, kauften wir erst vorsichtig einige Weinberge zurück“, erinnert sich Juniorchef Dimo Hadjiev. Wie so viele ambitionierte Produzenten, rebten sie ganz neu auf mit Material aus Frankreich. Die alten Anlagen gelten als geschwächt durch Viren.
So begann eine Winzergeschichte, die heute mit 350 Hektar Bio-Anbaufläche endet. Im Keller liegen Fässer aus Amerika, Frankreich, Russland und auch Bulgarien in verschiedenen Größen. Das einheimische Holz sei so gut, dass französische Tonnelerien hier gern zukaufen, hört man immer wieder. Holz hat Tradition, und viele Weingüter spielen damit. Terra Tangras Flaggschiff ist eine Cuvée aus französischen Sorten, die in 400 Liter-Fässern entsteht. Der Name lässt die nächste thrakische Gottheit vermuten, hat aber viel mehr mit der thrakischen Faszination für innovative Technik zu tun. Vor Begeisterung über die Finesse der Rotations-Fermentation haben sie den Tropfen „Roto“ getauft. Mit der Einstellung könnten die besten Tage des bulgarischen Weins noch kommen.