Die schweigende Mehrheit
Die gefeierten Grands Crus machen allerdings keine 5 Prozent der Produktion aus, und einfache Fassweine sind seit der Jahrtausendwende eher schwerer verkäuflich. Die Konkurrenz aus Übersee führte zuerst zu subventionierter Destillation, dann zu Reduzierung der Anbaufläche. Das betrifft die Mehrzahl der 6800 Bordelaiser AOC-Winzer, die immer Château-Besitzer sind, obwohl unter den landwirtschaftlichen Betrieben nur wenige wirkliche Schlösser sind. Auch für sie ist die Vermarktung gut organisiert. 300 Maisons de Négoce und 89 Handelsmakler vermarkten 70 Prozent der Produktion, unter anderem in China und Deutschland, den größten Abnehmern in mehr als 150 Exportländern. Dazu kommen 36 Genossenschaften und 4 Kooperativen, denen 40 Prozent der Winzer zuliefern.
Ein Absatzhindernis ist das eigene Image. Verschwenderische Dinners in Abendgarderobe, auf denen Drei-Sterne-Gastronomen aufkochen, sind Teil von Bordeaux' Selbstverständnis. Am Dubai International Airport gab es kürzlich eine einzige Flasche Château Margaux für 143.000 Euro zu kaufen. Da Wein ein populäres Getränk geworden ist, schreckt das viele Neutrinker ab. Die glauben angesichts solcher Phantasiepreise, Bordeaux sei immer sehr teuer. Vor allem jüngere Leute sehen Produkte mit Schlips-und-Kragen-Image tendenziell kritisch. Viele glauben, der Wein sei nur für Experten zu verstehen. Der Branchenverband müht sich deshalb mit Image-Kampagnen, diese Klischees zu durchbrechen. Für geschätzte acht Millionen Euro wird darin Bordeaux mit Street Food, Nachhaltigkeit, urban cuisine oder einfach Party kombiniert. Mega-Events wie „Fête Le Vin“ in Bordeaux, wo hunderte Winzer ihre Weine anbieten, sollen den umkomplizierten Volksfestcharakter unterstreichen. Ähnliche Veranstaltungen gibt es mittlerweile in Los Angeles genauso wie in Shanghai.
Junge Winzer mit neuen Konzepten werden vorgestellt. Im preiskritischen Deutschland forciert man Listen wie „100 Weine zum Entdecken“, die Weine im Preisrahmen von 5 bis 15 Euro anpreisen. Eine kurzfristige Erholung ist hierzulande immerhin zu beobachten. Ob die Strategie es langfristig bringt, fragen sich indes Marktteilnehmer, die normalerweise leiser auftreten. Auf den riesigen Flächen von Bordeaux findet sich manches Großunternehmen. Familien wie Lurton mit über 600 Hektar Weinbergsbesitz müssen sich intensiv Gedanken um ihre Absatzwege machen und nehmen mit ihrer Wirtschaftskraft Einfluss auf die Entwicklung des Gebiets. Traditionell protzt man nicht mit Reichtum. Das gilt auch für Familie Castel.
Was 1957 mit einem Familien-Weingut begann, ist heute ein Unternehmen mit drei Milliarden Euro Umsatz. Der Großteil stammt aus dem weltweiten Verkauf von Bier und Wasser, Castel steht auf Platz 7 der reichsten Getränkefabrikanten der Welt. Längst ist das Portfolio in Hochglanzprospekte gegossen. Wenn es darin um Firmenstrategie geht, liest man aber da, wo andere unbescheiden Superlative für die eigene Arbeit in Anspruch nehmen, Begriffe wie „Teilen“ und „Demut“. Auch beim Wein verfolgt man eine langfristige Strategie. „Wir kaufen nur unbekannte Weingüter“, erklärt Philippe Castel, „keine Grands Crus“. Bisher sind es 20, auf denen er mit Hilfe von namhaften Önologen wie Hubert de Bouärd Terroirs und Kellerarbeiten Schritt für Schritt optimiert. So steigt der Wert jedes einzelnen Châteaus langsam, aber beständig. Der Weinsektor des Familienunternehmens ist heute 30 bis 35 Millionen Euro schwer.
Paradebeispiel ist das derzeitige Spitzengut Château Montlabert vor den Toren von Saint-Émilion. Castel kaufte es 2008. Da lag der Subskriptionspreis bei 15 €. Heute hat er sich mehr als verdoppelt. Den Wein gibt’s in Restaurants, im Fachhandel, sogar im LEH. Aber einen Teil verkauft Philippe Castel auch hier über Négociants. Das steigert den Bekanntheitsgrad. „Außerdem könnten die sich später weigern, wenn sie jetzt nicht dürfen.“
Matthias Stelzig