Barolo ist Italiens Wein der Superlative. Der berühmteste Tropfen des Landes ist aus einer der ältesten Rebsorten, dem Nebbiolo. Er braucht Jahrzehnte, um zu reifen. Und selbst dann ist er eher was für Kenner, nämlich ganz unerwartet ernst für einen Italiener. Doch Nebbiolo ist nicht nur eine ungewöhnlich schwierige und komplexe Traube. An der Rebsorte lässt sich wie an kaum einer anderen die Diskussion um die Bedeutung des Terroirs diskutieren.
„Wenn du erntest,“ sagt Alberto Cordero, „ist das Spiel schon vorbei.“ Das klingt ein bisschen flapsig für den Präsidenten von Albeisa, der größten Erzeugergemeinschaft im Barolo, trifft es aber. In den Monaten Mai bis Juli entscheidet sich zum großen Teil, welche Qualität der Jahrgang erreicht – auch wenn der Wetterverlauf des ganzen Jahres eine Rolle spielt.
Der aktuelle Jahrgang 2012 ist dafür ein gutes Beispiel. „Schnee im Winter geht ja noch“, erinnert sich Winzerkollege Angelo Negro. Die Wasserreserven sind nützlich, wenn der Sommer zu trocken wird. „Aber die minus 15 Grad im Januar, das war dann doch heftig.“ Ein kühler Frühling sorgte danach für verspäteten Austrieb, Regen im Juni ließ die Traubenmenge schrumpfen. Zwei Hagelfronten gingen an dem Familien-Weingut in Monteu Roero vorüber, zum Glück. Dann die übliche Trockenphase, die es den Reben schwer macht. Im August stieg das Thermometer auf 38 Grad. Die Sonneneinstrahlung ist intensiv, sorgt aber für viel Extrakt. Der September war mild, wenn auch mit etwas Regen. Ernte im trockenen Oktober. Das war gut, 2012 wird ein ordentliches Jahr.
Negro Barolo
Doch Nebbiolo-Anbau ist nichts für Hobbygärtner. Die Rebe treibt früh aus und reift spät, nimmt somit jedes Anbau-Risiko in der Wachstumsphase mit. Die Stöcke sind wuchskräftig, das fordert viel Feldarbeit. Dazu kommen erhebliche Jahrgangsschwankungen. Im schlechtesten Fall wird es schwer, überhaupt Wein zu produzieren.
In den guten Jahren und Lagen des Barolo entstehen farblich helle Weine, die bald ins Orange-Braune wechseln, gewöhnlich lange bevor sich ihre hohe Säure und die harten Tannine harmonisiert haben. Dann wartet ein Tropfen, dessen Aromen zwischen Himbeeren und Teer, Trüffel und welkenden Rosen oszillieren. Kein Wein der Welt bringt diese komplexe Stilistik hervor.
nibiol, nubiolio, neblorium
Es überrascht also nicht, wenn die Sorte im Piemont schon länger geschätzt wird. 306 Liter „nibiol“ habe man in Rivoli 1266 erzeugt. Das verzeichnet ein zeitgenössisches Dokument, das noch heute in einem Turiner Archiv zu finden ist. Nebbiolo ist damit eine der ältesten Sorten Italiens, das über hunderte autochthoner Reben verfügt.
Auch weiterhin scheint der Tropfen gut angenommen worden zu sein. Der Begriff taucht immer wieder lautlich leicht abgewandelt in piemontesischen Akten auf, mal als „nubliolio“, mal als „neblorium“, mal als „nubiolio“. Dazu gesellen sich Synonyme, was dafür spricht, dass die Rebe sich weiter verbreitete als ein durchschnittlicher Winzer sich von Haus und Hof entfernte.
Der Name geht nach allgemeiner Einschätzung auf die italienische Vokabel „nebbia“, Nebel, zurück. Gemeint seien damit die Nebel, die während der Ernte wie Schleier in den Weinbergen der Langhe hängen. Forscher glauben etwas pragmatischer, dass der dicke weiße Flaum auf den reifen Beeren gemeint ist, weil viele Rebsorten-Namen vom Aussehen oder von den Eigenschaften der Stöcke und Weine abgeleitet sind. Letztere ist wissenschaftlich die glaubwürdigere These, erstere die werblich wertvollere und hält sich deshalb sehr gut.
Dorf im Piemont
Der Wein der Könige – ein Glücksfall
Der Weg durch das Piemont führt an Festungen, Herrenhäusern und mittelalterlichen Schlössern vorbei. Die Region wurde lange von Savoyen regiert. Die Dynastie verlegte ihr Herrschaftszentrum in die Region, stellte später die Könige von Italien und bediente sich nebenbei an den Weinbergen. So kam der Nebbiolo nah an das Machtzentrum und an die Tafeln von Adelshäusern quer durch Europa.
Im Jahr 1730 taucht der Name Barolo in einem Brief des Botschafters von Savoyen in London auf. Es kam wohl auch zum Exportgeschäft. Die angelandete Ware soll aber verdorben gewesen sein. Der Wein war nicht lagerfähig und hatte mit dem heutigen überhaupt wenig gemein. Die spät geernteten Trauben goren in den ungeheizten Kellern mit schwächlichen Hefen nicht durch. So lag im Frühjahr ein süßer, instabiler Wein in den Fässern. Nach einer nicht bis ins Detail gesicherten Geschichtsschreibung etablierte der französische Önologe Louis Oudart im 19. Jahrhundert Kellertechnik aus der Champagne im Piemont. Bei gleichbleibend höheren Temperaturen gelang es ihm, den Gärprozess durchlaufen zu lassen und den ersten Barolo im modernen Stil zu bereiten.
Auftraggeber des internationalen Consultants wurden die Markgräfin Giulia Falletti di Barolo und Graf Camillo Benso di Cavour, Vater der italienischen Verfassung und späterer Ministerpräsident. Der Slogan „König der Weine – Wein der Könige“ hat irgendwie hier seinen Ursprung und Barolo tatsächlich eine Wechselwirkung auf die Politik gehabt. Der Wein kam auch im Herrscherhaus Savoyen gut an. So gut, dass König Viktor Emanuel II., die zweite Schlüsselfigur der italienischen Nationalbewegung, das Jagdhaus Fontanafredda in Serralunga mit seinen Weinbergen für önologische Versuche zur Verfügung stellte. Fontanafredda gehört bis heute zu den Spitzenproduzenten.
Barolo
Wahre Lage oder reine Fantasie
Die Reblausplage, der Faschismus und die Weltkriege lösten eine Landflucht aus, die dem Weinbau der Langhe schwer zusetzte. Die erste Lichtgestalt des Jahrhunderts war Renato Ratti, der in den sechziger Jahren das prägende Element des Terroirs erkannte, Weine aus Einzellagen abfüllte und sogar eine Lagenkarte erstellte.
Mit dem steigendem Renommee füllten immer mehr Weinbauern ihre Weine selbst ab, die ihre Trauben vorher an die großen Handelshäuser verkauft hatten. Dieselbe Erntemenge auf immer mehr Winzer verteilt, bedeutet, die Betriebe werden immer kleiner. Noch heute produzieren vier von fünf Winzern weniger als 60.000 Flaschen, jeder vierte füllt nicht einmal 10.000.
Seit 1980 erlaubt die DOCG-Klassifikation die Nennung von Einzellagen auf dem Etikett. Die berühmtesten davon sind längst Legende und führten dazu, dass findige Winzer immer mehr umgangssprachliche Bezeichnungen oder einfach nette Fantasienamen zu Lagen erhoben. Schließlich setzte der Winzerverband dem Treiben ein Ende und ließ eine offizielle Liste der Weinbergslagen erstellen, die heute Gesetzescharakter hat. Diese 170 „menzioni geografiche aggiuntive“ haben aber keine Rangordnung wie die Lagen des Burgund.
Der Methanol-Skandal 1986 markierte den vorerst letzten Tiefpunkt für die Region. Innerhalb eines Jahres halbierte sich die Produktion, und den übrig gebliebenen Winzern blieb nichts, als sich ganz neu auf Qualität zu fokussieren. Diesem neuen Bewusstsein kamen überdurchschnittlich gute Wetterverläufe seit Mitte der neunziger Jahre ausgesprochen entgegen.
Doch der traditionelle Ausbau traf nicht mehr den Geschmack der Kunden. In zwei Monaten auf der Maische zogen die Trauben viel Tannin und Aroma aus. Stiele und Stängel sorgten für weitere Gerbstoffe. Die harten Jungweine brauchten lange Jahre, bis sie sich in großen Fässern halbwegs harmonisiert hatten. Immer mehr Winzer verlegten sich auf kurze Maischestandzeit, temperaturkontrollierte Vergärung im Stahltank und Barrique-Ausbau, um den Erwartungen der Konsumenten auf fruchtig-weiche und schnell trinkbare Weine entgegen zu kommen.
Mehr noch als in anderen Regionen verhärteten sich die Fronten. Bewahrer fürchteten den Verlust des einmaligen Aromenprofils. Modernisten wollten mit ihren leicht zugänglichen Weinen schneller mehr Käufer und Umsatz erreichen. Ironischerweise wurde Barolo durch eben diesen internationalen Stil weltbekannt – und teuer.
Heute hat sich der Disput weitgehend gelegt. Die Mehrzahl der Winzer hat sich – mit einem willkommenen Wechsel des Zeitgeists – auf einen eher traditionellen Weinstil mit modernen Mitteln und Hygienestandards verlegt. Verschiedene Stilrichtungen können neben einander leben. Die Stilbreite wirkt sogar stabilisierend. Überextraktion und Übermengen, die zu rufschädlichen Preisen im Discount landen, gibt es allerdings noch immer.
Wein transportfähig, Terroir eher weniger
Rebsorten wie Cabernet Sauvignon, Merlot und Pinot Noir haben sich von ihren ursprünglichen Anbaugebieten weit um den Globus verbreitet und an ihren neuen Standorten wieder die Spitzenplätze eingenommen. Bei Nebbiolo ist das nicht so.
Zum einen liegt es an der schwierigen Botanik. Vor allem für Siedler der ersten Generationen, ob ihre Trecks nun durch Kanada oder Südafrika zogen, waren robustere Sorten die bessere Wahl. Noch entscheidender könnten die Standort-Ansprüche gewesen sein. Die Langhe formte ein urzeitliches Meer aus Sedimentschichten. Heute zwischen 200 und 450 Meter hoch gelegen, kühlt es nachts stark ab, friert aber selten im Frühling. Der spätreifende Nebbiolo scheint genau das zu brauchen, vorzugsweise in Südwestlage. Nur findet sich die Kombination andernorts selten.
Das Gebiet um die elf Ortschaften des Barolo ist penibel kartografiert. Die besten Bodenunterlagen im Piemont sind meist Variationen von Kalkmergelböden, die sich in ihrer groben Zusammensetzung gar nicht mal so sehr unterscheiden. In Barolo und La Morra gibt es mehr Kalk, in Castiglione, Monforte und Serralunga mehr Sandstein, die Weine reifen etwas länger.
Der Wein fällt aber oft vielfältiger aus, als das Terroir es erwarten lässt. Wieder und wieder werden Bodenzusammensetzungen diskutiert. Und oft genug werden dabei chemische Anteile zur Begründung herangezogen, die es in kaum einem anderen Anbaugebiet auf die Liste der Bodeninhaltsstoffe schaffen würden. Die Argumentationen laufen mitunter sehr kontrovers. Es ist leicht möglich, dass sich Kenner der Materie über den Einfluss von Bor oder Mangan in hitzige Debatten verwickeln.
Alte Rebe - neu Welt
Im nahen Barbaresco wird knapp halb so viel Nebbiolo produziert wie im Barolo. Die durchschnittlich etwas tieferen, wärmeren Lagen zwischen 150 und 300 Meter sorgen mit weniger Temperaturunterschieden grob gesagt für etwas weichere Weine, die mit ihrer Frucht, Finesse und niedrigerer Säure auch früher zugänglich sind.
Grundsätzlich erreicht Barbaresco dieselben Qualitäten wie Barolo. Doch ein gültiger Titel wie „Wein der Könige – König der Weine“ ist PR-mäßig schwer zu schlagen. Daran ändert nicht einmal Angelo Gaja etwas. Der Winzer packte schon in den 1970er Jahren technische Änderungen wie kurze Maischegärung oder vorsichtigen Barrique-Ausbau an und erreichte damit ebenso komplexe wie marktfähige Weine. Der Piemonteser zählt zu den einflussreichsten Wein-Persönlichkeiten der Welt.
Im geologisch recht wechselhaften Roero nördlich des Barolo bauten schon die Etrusker, Vorläufer der antiken Römer, Wein an. Auch Nebbiolo wächst an den steilen Hängen seit vielen hundert Jahren. Heute stoßen preisbewusste Weinliebhaber in dem DOCG-Gebiet auf einzelne Spitzenweine zu sehr schmackhaften Kursen. Außerdem findet sich Nebbiolo verteilt über das Piemont zum Beispiel in Asti. Insgesamt nimmt er aber nur rund zehn Prozent der piemontesischen Anbaufläche ein, die wiederum drei Viertel allen Nebbiolos der Welt darstellt. Nennenswerte Pflanzungen gibt es noch in der Lombardei, wo die Sorte nicht so gut ausreift und weniger komplex ausfällt. Im Rest Europas existiert er auf verstreuten Miniflächen.
Das enorme Potenzial der Rebe reizte in der neueren Zeit Winzer auf anderen Kontinenten. Unter anderem die kalifornischen Winzerlegenden John Grahm von Bonny Doon und Jim Clendenen von Au Bon Climat. Der Turiner Einwanderer Angelo Cetto brachte es zum größten Weinbauern Mexikos. Ein Nebbiolo steht bis heute auf der Weinliste des Hauses. Vor allem in den gemäßigteren Regionen Australiens hat sich eine Reihe Winzer für den Anbau interessiert, mit besseren Ergebnissen je kühler die Lage ist.
An die duftige Komplexität des Barolo reicht jedoch keiner ran. Was wiederum gut für das Original ist. Die wichtigen Auslandsmärkte wie USA und Deutschland sind stabil. 280 der 650 Winzer haben sich in der Vermarktungsorganisation Albeisa (Unione Produttori Vini Albesi) zusammen geschlossen, die wesentliche Anstöße für die Vermarktung gegeben hat. Zur Jahrgangsvorstellung „Nebbiolo Prima“ reisen jedes Jahr Journalisten aus aller Welt an, um in einer Arbeitswoche 500 tanninstarrende Weine zu begutachten. Das hilft enorm, die mehr als 16 Millionen Flaschen mit dem markanten Albeisa-Relief im Glas an den Mann zu bringen. Die Barolo-Winzer werden sich wohl noch eine Weile über die anstrengende Weinbergsarbeit ärgern.